Camaronal Wildlife Refuge

Schildkröten, Vollmondnächte und animalische Überlebenskämpfe

30. Januar 2018

Schildkröten-Retten in Costa Rica? Will ich machen! Unbedingt!

Auf Costa Ricas Halbinsel Nicoya, in der Provinz Guanacaste, liegt das Camaronal Wildlife Refuge. Die Institution wurde 1994 zum Schutz der Meeresschildkröten ins Leben gerufen. Vier unterschiedliche Schildkröten-Arten leben hier an der Küste. Sie alle sind vom Aussterben bedroht.

Bei meiner Rundreise durch das Pura-Vida-Land, bekam ich die Gelegenheit, in Camaronal 3 Tage zu verbringen. Dieser Besuch und die Möglichkeit mich dort einbringen zu können, war ein großer Herzenswunsch.

Das Wildlife Refuge liegt recht abgelegen und ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zu erreichen. Die Anreise von Santa Teresa – erst mit mehreren Bussen (inkl. Getriebeschaden) und final mit dem Taxi – war somit ziemlich ausdauernd.

Umso größer die Freude, als ich mit Rita (einer langjährigen Freundin, die 2 Wochen mit mir reiste) in Camaronal ankam. Der Empfang war herzlich, wir bekamen unser Zimmer und wurden zur Einführungsveranstaltung der Volunteers eingeladen, bei der das Team auf das Projekt und seine Wichtigkeit einging.

Das Refuge besteht aus mehreren Gebäuden. Gegenüber des Haupthauses (in dem wir untergebracht waren) gibt es ein kleines Küchenhaus mit überdachter Lodge, auf der gemeinsam gegessen wurde und die Anlaufstation für Besucher ist. Unser Ansprechpartner Mario („solo habla español“), der sich auch um die Volunteers kümmerte, wohnte in einem wunderschönen Holzhaus. Die Volunteers waren in benachbarten Gebäuden mit Mehrbettzimmern untergebracht.

Als wir beim Abendessen alle zusammen saßen, fragte Mario grinsend, ob Rita und ich später zur Nachtpatrouille mitwollten. Mit großen Augen starrten wir ihn an. Ich dachte erst, ich hätte ihn falsch verstanden. Was für eine Frage?! „Si claro“ nickte ich begeistert und strahlte.

Um 23:15 Uhr ging es los.

Mario gab uns dünnes, rotes Papier, das wir vor unsere Taschenlampe wickelten. Schildkröten folgen nachts dem Mondlicht. Um sie mit dem grellen Licht nicht zu irritieren, darf nur mit rotem Lichtstrahl geleuchtet werden, erklärte er.

Im Dunkeln folgten wir Mario mit einem der Volunteers den kleinen Pfad zum Strand runter. Wir gingen zu dem Hochsitz, auf dem jede Nacht jeweils zwei Volunteers in 3 Schichten Dienst haben und das Hatchery nebenan bewachen. Dabei handelt es sich um eine Art großer abgeschlossener Käfig, der rundum mit engmaschigem Schutznetz umhüllt ist, so dass keine Eindringlinge und Wildtiere hinein können. Im Inneren sind in Sandbahnen eine Vielzahl Vierecke abgesteckt und nummeriert. In diesen Feldern werden alle gefundenen Schildkröten-Eier vergraben, aus denen nach Ende der Brutzeit die Jungen schlüpfen. Da alles in Listen dokumentiert wird, ist genau absehbar, aus welchem unterirdischen Nest sich die nächsten Babys ausbuddeln. Damit sie nicht ausbüxen, werden vor deren Ausschlüpfen die Felder mit kleinen Zäunen abgesteckt. Sobald die Kleinen soweit sind, werden sie zum Meer gebracht und beschützt in die Freiheit entlassen.

Das Hatchery am Strand von Camaronal
Die abgesteckten Felder im Hatchery. In den Zäunchen schlüpfen die nächsten Schildkröten

Am Hatchery startete die Patrouille. Von hier aus ging der Strand jeweils 3 KM nach links und rechts, wir hatten also einiges vor.

Über uns stand der Vollmond, so riesig, wie ich ihn selten in meinem Leben gesehen hatte. Er tauchte den kompletten Strand in einen warmen, hellen Schimmer. Fasziniert schaute ich in den Himmel, dann in das finstere Meer. Der Wind war noch ganz warm, die dunklen Wellen rauschten laut. In mir stieg die Spannung und Freude.

Mit flottem Schritt folgten wir Mario zur linken Strandseite. Überall wuselten hungrige Waschbären herum. Mir war noch nicht ganz klar, wonach wir Ausschau hielten und worauf achten sollten…

Die Frage klärte sich kurzerhand. Mario zeigte auf eine Spur, die sich vom Meer in Richtung Land zog und weiter oben in einer Sandkuhle endete. Schweigend griff er nach einem Stock und stocherte in der Vertiefung herum. Er schüttelte den Kopf. Hier war nichts.

Einige Meter weiter stießen wir auf die nächste breite Spur. Vorsichtig prüfte Mario den Sand, dann begann er emsig zu graben. Gebannt standen wir daneben. Langsam schob er den Sand zur Seite und förderte er ein paar zerbrochene Eier hervor. Ich schluckte. Mario reichte dem Volunteer Einmalhandschuhe und zeigte ihm, wie er vorsichtig buddeln solle. Den Anweisungen folgend, kamen die ersten unversehrten Eier zum Vorschein. Ich hätte nie geahnt, wie tief Schildkröten ihre Eier eingraben. Wir zählten 31 Stück und verstauten sie behutsam in einer Tüte, während Mario in seinen Unterlagen die Anzahl und den Fundort eintrug. Anhand seiner Tabellen erklärte er, dass der Strand in 3 Zonen unterteilt sei: Zone 1, direkt am Meer. Zone 2, im mittleren Strandteil und Zone 3 weiter oben.

Die Eier mussten jetzt zügig ins Hatchery. Dort wurde in dem vorgesehenen Feld ein armlang tiefes Loch gebuddelt, die Ausbeute vorsichtig hineingelegt und wieder mit Sand zugeschüttet. Danach nahmen wir uns die andere Strandseite vor. Auch hier wurden wir fündig. Am Ende der Patrouille hatten wir 40 Eier unter Schutz gestellt. Es war schon fast halb 2, als wir am Hochsitz den Mädels eine gute Nacht wünschten. Sie mussten noch ein paar Stunden ausharren und die gierigen Waschbären vertreiben. Vollgepackt mit Eindrücken legten Rita und ich uns schlafen.

7 Uhr. Der nächste Morgen nach einer kurzen Nacht. In einem hohen Baum vor unserem Fenster tümmelten sich Papageien in allen Farben und Größen, die mächtig Krach machten. Nach dem Frühstück stand der Bau eines weiteren Hatchery auf der Agenda. Rita und ich wollten unbedingt mithelfen und so machten wir uns alle gemeinsam am Strand an die Arbeit. Gut 2 Stunden in der Sonne, hieß es Loch ausheben, schaufeln, Sand sieben, schwitzen. Blasen an den Händen von endlosem Gerüttel mit dem riesigen Sandsieb inklusive.

Bau des neuen Hatchery unter Anleitung von Mario und bewaffnet mit Sieben

Der heiße Mittag stand zur freien Verfügung und wurde mit baden im Meer, chillen, lesen, Jogging und Musik machen vielfältig genutzt.

Über den Tag waren im Hatchery neue Schildkröten geschlüpft. Wir konnten sie uns ansehen und auf die Hand nehmen. Was waren sie winzig und verschrumpelt! Eines war sehr schwach und bewegte sich kaum. Ob es den Start in sein neues Leben schaffen würde, war noch unklar. Darauf hatte leider niemand Einfluss, hier endeten die Möglichkeiten des Teams. Am Abend mussten wir erfahren, dass es das kleine Wesen nicht geschafft hatte. Der traurige Lauf der Natur.

Die anderen Schlüpflinge hingegen waren quirlig und munter. Nach Einbruch der Dunkelheit war es so weit. Sie durften in die Freiheit. Zaghaft hob ich sie aus ihrem umzäunten Nest und legte sie in eine Schüssel.

In Meeresnähe setzten wir die Kleinen im Sand ab. Mit dem roten Lichtschein der Taschenlampen, leuchteten wir ihnen den Weg zum Ozean. Tüchtig schaufelten sie sich mit ihren verhältnismäßig langen Flossen ihre Strecke über den Strand. Ein anstrengender Weg für die kleinen Körper. Immer wieder mussten sie anhalten, Kräfte sammeln, um weiter dem Lichtkegel hinterher zu flitzen. Die erste Welle kam, nahm die kleinen Schildkröten mit sich und spülte sie zurück an den Strand. Erneut hatten sie den ganzen Weg zu bewältigen. Mitfühlend sahen wir zu, wie sie sich abrackerten, bis das Meer sie endlich in seine Obhut nahm. Ich war so stolz, dass sie es geschafft hatten und gleichermaßen zutiefst ergriffen. Ihr weiteres Überleben lag jetzt nicht mehr in unseren Händen.

In derselben Nacht liefen Rita und ich wieder die Patrouille mit. Leider fanden wir keine Spuren. Keine Nester, keine Eier, keine Schildkröten. Bloß hungrige Waschbären lungerten herum, ebenfalls auf der Jagd nach Beute. Offen gestanden, ich war enttäuscht. So sehr hatte ich mir gewünscht, am letzten Abend vor unserer Abreise eine Schildkröte zu sehen. Ich blickte zu Rita und sah, dass ihr die gleichen Gedanken durch den Kopf gingen.

Auf dem Weg zurück zum Hatchery, blinkten plötzlich vom anderen Strandende Lichtsignale auf. Mario griff nach seinem Funkgerät. Ich verstand nur Spanisch. Genau genommen verstand ich leider nicht genug Spanisch. Uns vermittelte Mario dann, dass wohl eine Schildkröte auf dem Weg zum Strand sei. Rita und ich grinsten über beide Backen. Mit Mario und der Truppe legten wir eilig die Strecke zurück, noch immer erhellte der riesige Mond weite Teile des Strandes. Und dann entdeckten wir plötzlich die Spur, die zuvor noch nicht da war. Breit zog sie sich vom Meer hinauf durch den Sand. Unser Blick folgte ihr und traf auf eine große Lora-Schildkröte, die langsam nach oben kroch. Mit gebührendem Abstand folgten wir ihr und versammelten uns still um sie herum, während sie begann, ein Loch auszuheben. Sie buddelte eine viertel Stunde, stoppte und krabbelte einfach weiter. Der Platz behagte ihr nicht. Ein Stück höher fing sie erneut an zu graben. Über 40 Minuten arbeitete sie mit ihren Hinterbeinen und Flossen, um die optimale Tiefe zu erreichen. Während sie begann, ihre Eier zu legen, verfiel sie in einen tranceähnlichen Zustand. Mario erzählte uns, dass Schildkröten während dieses Prozesses völlig wegtreten. Sie würde deshalb gar nicht registrieren, wenn man ihre Eier wegnimmt oder sie berührt. In diesem Zustand könne man sie problemlos wegtragen, sie würde es nicht bemerken.

Eier, in der Größe von Tischtennisbällen, ploppten aus ihrem Körper. Direkt in die behandschuhten Hände von einem der Volunteers. Sachte packte er sie in eine Tüte. 87 Exemplare waren es am Ende. Die bekämen die Waschbären glücklicherweise nicht in ihre Fänge! Wir alle waren mächtig beeindruckt, als wir das fleißige Muttertier zurückließen, um ihre Eier im warmen Sand im geschützen Hatchery einzugraben.

Wie krass ist das bitte?! schoss mir durch den Kopf. Du stehst einfach so mitten in der Nacht irgendwo in Costa Rica am Meer neben einer riesigen Schildkröte, während sie ihre Eier ablegt. Du leuchtest Schildkrötenbabys mit einer Taschenlampe den Weg ins Meer! In deiner Hand hast du ein nur wenige Gramm schweres, frisch Geschlüpftes gehalten! Mir stiegen Tränen in die Augen, bei den Gedanken.

Ich finde nur schwer treffende Worte für das, was besondere Momente mit mir machen. Sie prägen. Sie verändern. Sie berühren mein Herz. Dieses (Er-)Leben, ein Teil davon sein zu können, ist für mich Glück in seiner Reinform.

So oft denke ich, dass ich kein Durchschnittsleben führe. Ich bin für diese vielen, außergewöhnlichen Erlebnisse (auch daheim im Alltag) unendlich dankbar. Ich weiß, dass sie nicht selbstverständlich sind. Solche Reisen wiederum, haben nicht wirklich etwas mit „normalem Urlaub“ zu tun. Sie sind mit einiger Vorbereitung und mit Anstrengungen verbunden. Ich hirne lange und viel vor den Reisen und setze mich intensiv damit auseinander. Um manche der Wege zu gehen, braucht es eine Portion Mut, verbunden mit Ungewissheit, gepaart mit Vertrauen und Zuversicht. Es erstaunt mich immer wieder, welche Türen sich auf unbekannten Pfaden öffnen, wenn man bereit ist, den Schlüssel in ihr Schloss zu stecken und umzudrehen…

Es war schon 1:20 Uhr, bis wir in der Nacht fertig waren. Müde und völlig ergriffen, gingen Rita und ich zu unserer Unterkunft zurück. Wir wollten uns nur noch aufs Ohr hauen. Wir konnten ja nicht ahnen, was uns noch bevorstand.

Auf der Wiese vor dem Haupthaus herrschte nämlich ein Ziegenbock. Bereits seit unserer Ankunft als überaus kontaktfreudig, nein, aufdringlich bekannt, empfand er enorme Freude dabei, sein Umfeld zu malträtieren. Der Begriff Nachtruhe war dem Tier gänzlich fremd. Das kleine Schwänzchen wedelte enthusiastisch, während die Abenteuerlust dem gehörnten Aggro-Bock förmlich aus den Augen schoss. Mein Blick fiel auf die Leine, die zwar am Baum, aber nicht mehr am Hals des Ziegenviehs befestigt war. Das Hirn begann zu kombinieren, die Erkenntnis sickerte durch die geistigen Poren und schon ereilte uns animalisches Unheil.

Bevor ich Rita hinter mir warnen konnte, kam das (Un-)Tier auf uns zu. Ich zückte den Schlüssel der Eingangstür und hechtete auf die Veranda. Die Chance, den Schlüssel zu benutzen, blieb mir verwehrt. Der Bock verfolgte nur eine Mission; mich mit seinen Hörnern auf Trab zu halten. „Rita, mach was!! Ich krieg so die Tür nicht auf“, pienzte ich, mit einer Hand am Schlüsselloch fummelnd und mit der anderen vergeblich das Ungetüm abhaltend.

Rita stand in respektvollem Abstand auf der Wiese, ausgestattet mit Zweigen und Blättern, und wedelte semi-motiviert in Richtung des Sado-Maso-Bocks. Pah! Den interessierte das lächerliche Gestrüpp null. Wer gibt sich schon mit popeligem Geäst ab, wenn er Beute aus Übersee kredenzt bekommt?! Der Dreck-Bock (ich bin tierlieb, ehrlich!) ließ auch nach 10 Minuten nicht locker und mir ging mehr und mehr die Düse. Hinter mir wedelte und lockte Rita freundschaftlich weiter.

Er schenkte ihr irgendwann tatsächlich für Sekunden seine Aufmerksamkeit, ich hatte beide Hände frei und schwupps, war der Schlüssel in der Tür und mit Ziehen und Stoßen der Eingang geöffnet. Rita warf ihr Gebüsch von sich, schoss mir hinterher und (angst-)schweißgebadet verrammelten wir die Schotten der sicheren Burg. Rita begann, sich halb ins Koma zu lachen, während ich noch immer schnappatmend versuchte, meine Nahtod-Erfahrung zu verarbeiten.

Jetzt endlich ins Bett! Was für ein naiver Wunsch…

In unserem Zimmer erwartete uns bereits die nächste zoologische Dschungelprüfung; eine Krabbe hockte zwischen unseren Betten und Rucksäcken auf dem Boden. Das spinnenähnliche Getier, seine Scheren zum Meuchelmord bereits gewetzt, löste bei mir ungeahnte Wogen der Verzweiflung aus. Für mich stand fest, dem Teil nähere ich mich nicht mehr in dieser Nacht. Ich hatte genug. Hier wuchs Rita, offiziell anerkannte Dschungelkönigin, über sich hinaus. In der benachbarten Küche schnappte sie sich zwei Becher und fing damit – nach mehreren Versuchen, die auch ihr alle Überwindung abverlangten – das flinke Scherentier ein. Über einen Hinterausgang der Küche – das Haupttor war wegen des lauernden Geißbocks kontaminierte Sperrzone – entließ sie die Krabbe in die Freiheit. Welche Heldentat und hervorragend, wenn die Arbeitsteilung zwischen einem Reiseduo so funktioniert.

Erschöpft und todmüde krochen wir kurz nach 2 Uhr endlich in unsere Betten. Über meinem Kopf flitzte ein Gecko die Wand entlang. Ha, der konnte mir maximal ein schwaches Grinsen abringen. Diese quirligen Kerlchen liebe ich aber auch ganz arg.

Keine 5 Stunden blieben uns mehr, bis ich den klingenden Wecker gegen die Wand trümmern müsste. Wer hätte im Schildkrötencamp auch mit derartigen Herausforderungen gerechnet?

Aber wenn du denkst, es kommt nichts mehr,
läuft hinter dem Geißbock noch ne Krabbe daher…

Surfer am Strand von Camaronal
Iguano, der ebenfalls vor unserer Unterkunft rumlungerte

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